Die Liebe zur Wahrheit

Veröffentlicht am 15. August 2018 von Beat Hürlimann

Was teilen Ernest Hemingway und Elon Musk, was auch das perfekte digitale Werbekonzept ausmacht? Es ist die Liebe zur Wahrheit, die auch Wirklichkeit ist.

Kampagnen sollen Geschichten erzählen, weil Geschichten im Gegensatz zu Fakten besser in Erinnerung bleiben. Am besten sind Geschichten mit Menschen und Orten. Menschen, weil wir uns mit ihnen identifizieren, und Orte, weil unser Gehirn gemäss dem Neurologen Boris Nikolai Konrad sehr gut geschult ist darin. Ist eine Erinnerung nämlich mit einem Ort verknüpft, fällt uns das Vergessene häufig wieder ein. Es reicht auch schon, sich den Ort bildlich vorzustellen.

Das alte Mann und das Meer

Eine Geschichte, die Mensch und Ort wunderbar verknüpft, ist «Der alte Mann und das Meer» von Ernest Hemingway. Die Novelle handelt von der Geschichte des kubanischen Fischers Santiago und dessen epischem Kampf auf offener See mit einem gigantischen Marlin. Die Geschichte trug dazu bei, dass Hemingway 1954 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde.

Der wahrste Satz, den es gibt

Was steht am Anfang einer Geschichte, die Menschen dermassen bewegt und in Erinnerung bleibt? Hemingway schreibt dazu: «Manchmal, wenn ich mit dem Schreiben einer neuen Geschichte beginnen soll und keinen Anfang finde, sitze ich vor dem Kaminfeuer, werfe geschälte Orangenschalen ins Feuer, beobachte deren blauen Schweif, stehe auf, schaue durchs Fenster über die Dächer von Paris und denke: ‹Keine Sorge. Du hast es bisher geschafft und Du schaffst es auch jetzt. Alles was Du tun musst ist den einen wahren Satz niederzuschreiben. Schreibe den wahrsten Satz, den Du kennst.›» Hemingway liefert auch ein Rezept dazu: «Erstens, denke an etwas Wahres. Zweitens, schreibe diese Wahrheit in einem Satz nieder. Drittens, beginne darüber nachzudenken, mit welchen Techniken des Storytellings diese Wahrheit illustriert werden kann.»

Die VW-Käfer-Werbung

«Der Mann und das Meer» ist ein solcher Satz. In der Geschichte geht es um Archetypisches. Um das Thema der Versuchung, des Ausharrens und der Bewährung, illustriert am Fischer Santiago und seinem epischen Kampf um den Fang seines Lebens. Und genauso verhält es sich mit dem Auftakt zur Entwicklung einer Werbekampagne. Wir benötigen diesen einen Satz der Wahrheit über die vor uns liegende Aufgabenstellung. Zwei mutmassliche Beispiele aus der Werbehistorie: VW-Käfer-Kampagne aus den Sechzigern. Frage an den Kreativen mit dem truest sentence you know: «Wie liest sich ultimative Zuverlässigkeit eines Autos?» Antwort des Kreativen: «Er läuft und läuft und läuft.» Keine Ahnung, ob sich das so zugetragen hat, aber zur Illustration ein sehr schönes Beispiel. «Richtig verkehrt» hiess der wahrste Satz, aus dem Anfang der Nullerjahre die legendäre Kampagne des Zürcher Verkehrsverbundes (ZVV) mit Sätzen wie «Ich bin auch ein Schiff» hervorging. Das Bild zum Satz ist ein Tram, das auf dem Zürichsee dahergefahren kommt.

Weshalb schreibe ich das in meiner Kolumne zum Thema «Digitalisierung und Social Media»?

Der Zwang, alles richtig zu machen

Der Kampf um Aufmerksamkeit und Erinnerung tobt wie nie zuvor. Es braucht keine Zahlen. Wir kennen das Bombardement viel zu vieler irrelevanter Botschaften aus eigener Erfahrung. Wir ignorieren, klicken weg und verbannen. Als Werbetreibender muss man heute alles Erdenkliche richtig machen, um die Konsumenten und Konsumentinnen überhaupt noch für sich gewinnen zu können.

Das 3-Perspektiven-Modell

In meinem Beitrag Werbewoche-Ausgabe 1/18 berichtete ich über das 3-Perspektiven-Modell, wie ich es selber seit Kurzem im Rahmen der Kampagnenentwicklung anwende. Es geht dabei um die Herangehensweise an eine Aufgabe aus den Perspektiven des Werbeauftraggebers, des Kreativen und des Mediaplaners. Dabei geht man nicht wie gewohnt linear chronologisch vor – also mit Briefing, dann Konzept, dann Planung –, sondern alle Perspektiven richten sich gleichzeitig in Richtung einer Lösung. Orientierungspunkt für alle ist dabei der gemeinsam erarbeitete Sentence of Truth!. Entscheidend dabei ist, dass die Wahrheit der Realität entspricht. Es geht nicht um die subjektive Wahrheit, wie sie herauskommt, wenn wir Wirklichkeit mit Meinung verwechseln. Trump wurde gewählt, weil es Wirklichkeiten gibt, die viele nicht wahrhaben wollen. Es geht immer um das Unliebsame an der Wirklichkeit, das wir gerne ausblenden, weil es uns nicht in dem Kram passt. Ian Crocombe, Regional Head of Facebook Creative Shop Northern Europe, kürzlich am «D:Pulse»-Event in Zürich-Oerlikon: «We have to do good. We have to be really quick. We have to come to the point within 3 seconds.» Crocombe spricht das Wirkungsumfeld an, in dem sich unsere Botschaften nicht nur gegen Abertausende Drittsignale, sondern auch gegen unsere völlig  veränderten Wahrnehmungsmuster behaupten müssen. Auf unsere VW-Käfer-Kampagne bezogen erweitern wir den Sentence of Truth! um die Erkenntnis aus der aktuellen Medienperspektive, wie sie Ian Crocombe beschreibt: Wie setze ich die ultimative Zuverlässigkeit eines Autos ins 5-Zoll-3-Sekunden-Bewegtbild?

Das Elon-Musk-Prinzip

Elon Musk ist CEO von Tesla und Innovations-Leader unserer Zeit. Seine Erfolgsformel heisst NO FORMULA. Dafür ist er bekannt für sein First Principles Thinking, dessen Ursprung auf Aristoteles zurückgeht. Demnach ist, vereinfacht gesagt, für jede neue Aufgabe ein völlig neuer Lösungsansatz erforderlich. Das Prinzip steht quasi in Konkurrenz zum Analogien-Prinzip, wo wir uns auf der Lösungssuche auf eigene oder Projekte Dritter berufen oder eben auf Erfolgsformeln aus der Vergangenheit. Ein Prinzip, das in einer Zeit, in der sich Dinge schlagartig verändern, rasch an Grenzen stösst. Musk beschreibt das First Thinking Principle so: «You boil things down to the most fundamental truths . . . and then reason up from there.» Auf Deutsch und für unsere Werbearbeit: Das Briefing runterkochen auf den einen Satz der Wahrheit, der auch Wirklichkeit ist. Das Team wirds beflügeln, und der Werbeauftraggeber wird sich an der Lösung erfreuen!

 

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