Telling True Stories

Veröffentlicht am 14. September 2017 von Beat Hürlimann

Das Bild zeigt eine Frau in nachdenklicher Pose. Das Bild erzählt eine Geschichte

Debra Dickerson sass in einem Kaffee, gab ein Interview, sah durchs Fenster eine Frau vorüber gehen und sagte laut vor sich hin: «Schönes Kleid, scheussliche Schuhe.»

The Shoes don’t match

Der Interviewer übernahm die Aussage. Was Dickerson meinte: Vor Jahren hatte sie einen Streit mit ihrem Freund. Wutentbrannt verliess sie das Appartement. Abends kehrte sie zurück und stellte fest, dass sie ihr Kleid in der Hitze des Beziehungsgefechts verkehrt herum übergezogen hatte. Daran erinnerte sie sich, als sie die Frau sah. Sie kritisierte die Frau nicht, sie fühlte mit ihr.

Die Episode stammt aus dem Buch Telling True Stories, herausgegeben von der Nieman Foundation der Harvard University.

Journalisten (und Werber) nehmen, was Menschen sagen, als bare Münze – aber das ist falsch, sagt Dickerson. Es sind die Sinn stiftenden Geschichten hinter dem was Menschen sagen, die man erzählen muss. Wo bleiben sie?

Texten hat nichts mit Storytelling zu tun

Wer im Newsroom oder Texterbüro mit Fakten und Briefings gross geworden ist, hat nicht viel mit Storytelling am Hut. Falsch? Wissen wir, wie Sinn in faktenschwangere News- und Marken-Stories bringen? Verwechseln wir Sinn nicht mit Meinung. Journalismus und Werbung unserer Zeit sind kognitiv. Wir verarbeiten Fakten und beweisen Sachverhalte. Aktuell mehr denn je, weil Geld und Zeit für Vertiefung fehlt. Was geschieht, wenn wir dabei Gifte wie Fake News und Alternative Facts in der Hitze digitaler Gefechte zu Wahrheiten verarbeiten?

Es gibt ein Gegenmittel und das ist die gute Story. Was unterscheidet den Storyteller vom Texter und Newsroom Reporter? Storyteller vergewissern sich draussen bei den Menschen und schreiben darüber. Wie das? Beim Briefing einer Bank wurden wir vom Butler mit Ehren empfangen und am Ende im Sitzungsraum alleine zurückgelassen. Ich schlug, um diese Story reicher, ausserbrieflich die Idee einer Knigge-Kampagne vor. Gut, wenn einem solche Storys in den Schoss fallen. Besser, wenn man sie plant und sich systematisch in Gesprächen mit wichtigen Stakeholdern den Stoff persönlich fürs Schreiben abholt.

Mit dummen Fragen zu guten Geschichten

Gibt es Tricks dabei? Debra Dickerson rät zu «dummen» Fragen. Sie ist Reporterin. Wie geht das für Werbung, wo faktisches Argumentieren mit UPSs auf Teufel komm raus dominiert, was aber eben schlecht erinnert wird und die Entscheidungsfindung nur zweitrangig beeinflusst? Sie rät auch, man müsse die Rolle des Devil’s Advocate spielen und sein Gegenüber mit provokativen Fragen aus der Reserve locken: Ihr Banken schreibt Euch in Werbungen Kundenorientierung auf die Fahne, lasst aber Eure Besucher alleine in Sitzungszimmern zurück? Mein Rat: Kaufen Sie das Buch Telling True Stories!

Die Dreih-Hirn-Theorie

Jo Franklin schreibt darin über die Anatomie von Storys und bringt die Drei-Hirn-Theorie von Paul MacLean ins Spiel: Ein Hirn ist kognitiv und versteht Sprache, ein zweites Emotionen und ein drittes Rhythmus. Mit Ziel bleibender Botschaften ist demnach die Ansprache aller drei Gehirne erforderlich. Rhythmus? Hemingway schrieb seinen Roman Farewell to Arms nach den Klängen von Johann Sebastian Bachs erstem von sechs brandenburgischen Konzerten. Wie wärs mit einer Kampfansage an Ihre Konkurrenz mit Storytelling zum Rhythmus von AC/DC und der Botschaft Highway to Hell?

Plot Points

Zur Anatomie einer Story gehören die Plot Points. Da, wo der Erzähler Wendepunkte setzt. Zu Beginn ist das der Moment, in dem der Charakter einer Story in etwas hineingerät, das sein Leben kompliziert: Debra Dickerson hat Streit mit ihrem Freund und verlässt wutentbrannt das Appartement. Beat wird vom Bankbutler höflich ins Zimmer begleitet und am Ende sitzen gelassen. Es müssen nicht zwingend Konflikte sein. Auch Momente alltäglicher Herausforderungen, die dem Charakter besonderes abverlangen, eignen sich als Plot Points. In der westlichen Kultur, so Franklin, ist der Konflikt beliebt als Plot Point, in der afrikanischen Kultur weniger. Andere Länder, andere Storysitten. Auch das ist zu beachten.

Point of Insight

Weiterer Bestandteil einer Story ist der Point of Insight. Für Franklin ist das der Moment, in dem es in einer Story in die Phase der Auflösung geht, in dem Hauptcharakter und Leser gemeinsam den Kern eines Problems erfassen und wissen, was zu tun ist, was zu kaufen ist. Franklin lässt seine Schüler Geschichten über das Sterben krebskranker Menschen schreiben. Point of Insight ist nicht die Diagnose Krebs. Point of Insight ist die Überwindung der Angst vor dem Krebs. Was Franklin meint: Es gibt Situationen, die wir nicht ändern können, aber wir können uns mit ihnen würdevoll und in Wahrung eines Gefühls der Kontrolle arrangieren.

In guten Storys hält der Hauptcharakter sein Schicksal in den eigenen Händen. Im wahren Leben ist das nicht immer so. In diesem Sinne sind Storys nicht ganz wie das richtige Leben. Diese Nuance ist, was wir uns als werbliche Übertreibung bewahren dürfen. Gute Newsstorys zeigen, wie Menschen überleben. Gute Werbestorys zeigen, wie Marken überleben. Und wie schreiben Sie Ihre Geschichten? Diskutieren Sie mit …

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